Universelle Gleichung für explosive Phänomene
Werkzeug zur Berechnung von Kipppunkten

Links: Skizze für die Variation einer Pitchfork-Bifurkation für den Phasenraum {x ≥ 0} und Parameter (p, q) mit primärem Parameter p und zweitem generischen Entfaltungsparameter q.
Rechts: Skizze für die Variation einer transkritischen Bifurkation für den Phasenraum {x ≥ 0} und Parameter (p, q) mit primärem Parameter p und zweitem generischen Entfaltungsparameter q.
Der Klimawandel, eine Pandemie oder die koordinierte Aktivität von Neuronen im Gehirn: In vielen physikalischen Modellen treten an einem kritischen Übergang explosive Phänomene auf. Das bedeutet, ab einem gewissen Punkt geht der Grundzustand in einen neuen Zustand über.
Christian Kühn, Professor für Mehrskaligkeit und stochastische Dynamik, und Dr. Christian Bick, von der Vrije Universiteit Amsterdam und Hans Fischer Fellow am TUM Institute for Advanced Study (IAS), haben an solchen sogenannten Kipppunkten eine universelle mathematische Struktur entdeckt. Sie bildet die Grundlage für ein besseres Verständnis für das Verhalten von vernetzten Systemen.
Ihre Ergebnisse beschreiben sie in "A universal route to explosive phenomena" in Science Advances.
Kipppunkte: Wann wird es kritisch?
Es ist eine essenzielle Frage für Wissenschaftler*innen aller Fachdisziplinen: Wie können die Veränderungen in einem vernetzten System vorhergesagt und beeinflusst werden? "In der Biologie ist ein Beispiel die Modellierung von Neuronen, die sich koordinieren können", erklärt Professor Christian Kühn. Aber auch in anderen Disziplinen werden solche Modelle untersucht, etwa für die Ausbreitung einer Krankheit oder den Klimawandel.
Alle sogenannten kritischen Veränderungen von vernetzten Systemen haben dabei eins gemeinsam: einen Kipppunkt, an dem sich das System vom Grundzustand wegbewegt und zu einem neuen Zustand übergeht. Dabei kann es sich um einen weichen, leicht umkehrbaren oder einen harten, schwer umkehrbaren Übergang handeln, an dem der Systemzustand sich sprunghaft oder "explosiv" ändern kann. So kann die Ausbreitung eines neuen Krankheitserregers, abhängig von der Infektionsrate, entweder natürlich zum Erliegen kommen oder sprunghaft ansteigen und langfristig in der Bevölkerung zirkulieren. Im Klimawandel sind solche Übergänge etwa für das Schmelzen des Polareises bekannt.
Die Übergänge werden dabei in vielen Fällen durch die Variation eines Parameters hervorgerufen. Im Fall des Klimawandels ist der Parameter die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre, die ansteigt. Mit solchen Zustandsänderungen, sogenannten Bifurkationen, befasst sich die nichtlineare Mathematik als Kerndisziplin der Angewandten Mathematik. Dabei erforschen Wissenschaftler*innen wie solche Parameter den qualitativen Zustand in nichtlinearen Systemen beeinflussen und wann sie Kipppunkte auslösen.
Ähnliche Strukturen in vielen Modellen
Ein harter Kipppunkt hätte in einigen Fällen – wie dem Klimawandel – sehr negative Auswirkungen, in anderen Systemen wäre er wünschenswert. In mathematischen Modellen haben Forscher*innen daher versucht, durch die Einführung neuer Parameter oder Bedingungen die Art des Übergangs zu beeinflussen. "Man variiert zum Beispiel noch einen zweiten Parameter, etwa, dass in einer Pandemie die Personen ihr Verhalten anpassen. Oder dass sich ein Input in ein neuronales System ändert", sagt Kühn. "In diesen Beispielen und vielen anderen Fällen hat man gesehen, dass sich der Übergang von hart nach weich oder umgekehrt verändern kann."
Kühn und Bick untersuchten die Modelle aus verschiedenen Disziplinen, die bereits erstellt wurden, um bestimmte Systeme zu verstehen. "Wir haben uns gewundert, dass sehr viele mathematische Strukturen, die den Kipppunkt betreffen, in den Modellen ähnlich ausgesehen haben", erklärt Bick. "Indem wir das Problem auf die einfachste mögliche Gleichung reduzierten, konnten wir einen universellen Mechanismus erkennen, der über die Art des Kipppunktes entscheidet und für möglichst viele der Beispielmodelle gilt."
Damit haben die Wissenschaftler einen neuen Kernmechanismus mathematisch beschrieben, der es ermöglicht zu berechnen, ob es in einem vernetzten System einen weichen oder harten Kipppunkt geben wird. "Wir stellen ein mathematisches Werkzeug bereit, das universell, also sowohl in der theoretischen Physik, in Klimawissenschaften als auch in der Neurobiologie und anderen Disziplinen angewandt werden kann und unabhängig vom speziellen Anwendungsfall funktioniert", sagt Kühn.
Bifurkationstheorie Komplexer Systeme
Doch mathematische Werkzeuge für Kippunkte bzw. Bifurkationen sind damit in vielen Aspekten gerade erst am Beginn einer langen Entwicklung. Gerade in komplexen Systemen sind noch viele mathematische Fragen völlig offen. Denn dabei spielen nicht nur klassische Netzwerk-Strukturen eine Rolle, sondern auch stochastische Einflüsse, Kopplung über höher-dimensionale geometrische Strukturen oder nicht-lokale Kopplung in Ort und Zeit.
In dieser Hinsicht bieten konkrete Anwendungsfelder, wie Neurobiologie, Klimawissenschaften oder Epidemiologie, eine zusätzliche Motivation und ideale konkrete Testfälle. Solche untersucht die Arbeitsgruppe "Multiscale and Stochastic Dynamics" gerade aktiv. So entwickelt sie zum Beispiel weitere neue Bifurkations-Techniken im Rahmen des europäischen Großprojektes "Tipping Points in the Earth System (TiPES)" in Zusammenarbeit mit interdisziplinären Partner-Teams aus der Physik und den Klimawissenschaften.