"scVelo" sagt Zellentwicklung vorher

Mathematische Methode zur Analyse der Genaktivität

10. August 2020
Professor Fabian Theis vor einem White Board mit Skizzen und mathematischen Formeln

Fabian Theis, Professor für Mathematische Modellierung biologischer Systeme an der TUM und Direktor am Institut for Computational Biology, hat die Studie zu "scVelo" konzipiert.

Wie entstehen Zellen und wie entwickeln sie sich? Ein Forschungsteam der Fakultät für Mathematik der Technischen Universität München (TUM) und des Instituts for Computational Biology (ICB) am Helmholtz-Zentrums München hat die Open-Source-Software "scVelo" (Single-cell Velocity) entwickelt, die die Dynamik der Genaktivität in Zellen berechnet. Damit können die Forscher den künftigen Zustand einzelner Zellen vorhersagen.

Schätzung der RNA-Geschwindigkeit

Die kürzlich eingeführte Methode "RNA Velocity" (RNA-Geschwindigkeit) ermöglicht es, den Entwicklungsverlauf einer einzelnen Zelle rechnerisch zu rekonstruieren und ihren Zustand auf einer Zeitskala von Stunden vorherzusagen.

Dazu wird die RNA-Geschwindigkeit ermittelt – das ist die zeitliche Abweichung des Expressionszustandes eines einzelnen Gens. Die Grundlage bildet das Verhältnis seiner ungespleißten (prä-m-RNA) zu seiner gespleißten Boten-RNA (mRNA). Spleißen ist ein Schritt in der Weiterverarbeitung der RNA.

Die Berechnung der RNA-Geschwindigkeit war jedoch bislang nur auf statische Zellpopulationen anwendbar. Nun haben die Forscher*innen das Konzept von "RNA Velocity" methodisch erweitert.

Single-cell Velocity entschlüsselt Zellentwicklungen

"scVelo" nutzt ein wahrscheinlichkeitsbasiertes dynamisches Modell, um die RNA-Geschwindigkeit zu ermitteln. Eine Künstliche Intelligenz (KI) löst dabei die gesamte Transkriptionsdynamik für jedes Gen. Damit ist die Methode auch auf dynamische Populationen anwendbar. Solche Zellpopulationen sind wichtig, um Zellentwicklung und Reaktionen auf Krankheiten zu verstehen.

"Wir haben scVelo genutzt, um die Zellentwicklungen in der endokrinen Bauchspeicheldrüse und im Hippocampus zu entschlüsseln. Außerdem haben wir dynamische Prozesse bei der Lungenregeneration untersucht – und das ist erst der Anfang", sagt Volker Bergen, Entwickler von scVelo und Erstautor der dazugehörigen Veröffentlichung Generalizing RNA velocity to transient cell states through dynamical modeling in Nature Biotechnology.

Mit scVelo können die Forscher*innen ohne aufwändige Experimente Reaktionsraten ermitteln und damit herausfinden, wie schnell die RNA produziert und gespleißt wird und wann sie schließlich zerfällt. So können sie die Entwicklung von Zellen vollständig rekonstruieren und jede Zelle entlang ihres Entwicklungsverlaufs einordnen. Zudem deckt scVelo regulatorische Veränderungen auf und identifiziert die Gene, die für diese Veränderungen verantwortlich sein könnten.

Auftrieb für personalisierte und prädiktive Medizin

KI-basierte Lösungen wie scVelo unterstützen dabei, personalisierte Behandlungsmethoden zu entwickeln. Der Sprung von statischen Momentaufnahmen zu volldynamischen Systemen erlaubt es, von rein deskriptiven zu prädiktiven Modellen überzugehen. In Zukunft könnten so Krankheitsverläufe wie Tumorbildung besser verstanden oder auch die Zellantwort als Reaktion auf eine Krebsbehandlung entschlüsselt werden.

"scVelo wurde seit der Veröffentlichung im letzten Jahr knapp 60.000 Mal heruntergeladen. Die Software ist zu einem populären und wichtigen Werkzeug für die Entwicklung kinetischer Modelle für die Einzelzell-Transkriptomik geworden", ergänzt Fabian Theis, Professor für Mathematische Modellierung biologischer Systeme an der TUM und Direktor am ICB, der die Studie konzipierte.

Dieser Artikel basiert auf der Original-Meldung des ICB: Künstliche Intelligenz & Einzelzellgenomik: Neue Software sagt das Schicksal einer Zelle vorher